Spanische Erinnerungsorte

Organisatoren
Ditte Gurack / Frauke Kersten-Schmunk / Jorge Luengo / Kai Müller / Thomas Weller, Institut für Europäische Geschichte Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.05.2010 -
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Von
Ditte Gurack / Kai Müller, Institut für Europäische Geschichte Mainz

Am 25. Mai 2010 fand am Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz ein eintägiger Workshop zum Thema „Spanische Erinnerungsorte“ statt. Während in zahlreichen europäischen Ländern Buchprojekte zu Erinnerungsorten verfasst wurden oder im Entstehen begriffen sind, gibt es in Spanien dafür keine Pläne. Die tatsächliche oder nur vemeintliche Besonderheit des spanischen Falls war daher eine der zentralen Fragen, die von den angereisten Spanienhistorikern und den Teilnehmern anderer Fachrichtungen auf dem Workshop diskutiert wurden. Das IEG erwies sich hierfür unter anderem auch deshalb als ein besonders passender Tagungsort, als von hier aus ein Großprojekt zu "Europäischen" Erinnerungsorten koordiniert wird, dessen erste Bände im nächsten Jahr erscheinen sollen.

Das Programm des Workshops war zweigeteilt: Nach einführenden Worten von Heinz Duchhardt, der kurz die „Europäischen Erinnerungsorte“ vorstellte, ging THOMAS WELLER (Mainz) auf die spezielle Problematik des spanischen Falls ein. Anschließend wurden am Vormittag die theoretischen und methodischen Grundlagen der lieux de mémoire anhand von Texten von Pierre Nora, Aleida Assmann und Etienne François erschlossen. Nachmittags wurden in Vorträgen und anschließenden Diskussionen konkrete Fallbeispiele erörtert und die Anwendbarkeit des Konzepts auf bestimmte erinnerungsträchtige „Orte“ der spanischen Geschichte überprüft.

Nach einer Einführung von THOMAS WELLER, DITTE GURACK (Bochum/Mainz) und JORGE LUENGO (Florenz/Mainz) in Forschung und Werk der drei genannten Autoren entwickelte sich eine lebhafte Debatte. Insbesondere über das „nostalgische“ lieux-de–mémoire-Verständnis Pierre Noras, der als „Gründervater“ dieser Forschungsrichtung gilt, seit er das monumentale Unternehmen begann, die symbolische Landschaft Frankreichs zu kartieren, wurde engagiert gestritten. Kritisiert wurden vor allem der nationale und kontinentaleuropäische Fokus sowie die Aussparung beispielsweise marginalisierter Gruppen, aber auch konkurrierender Konzepte von Identität, Gedächtnis und Nation. Skepsis prägte auch den weiteren Verlauf der Diskussion. Zum einen wurde gefragt, wie das Konzept auf andere, größere oder auch kleinere, in jedem Fall aber nicht-nationale Räume anwendbar sei; zum anderen nahm man die gedächtnispolitische Dimension solcher Forschungsunternehmen in den Blick. Wäre ein solches Unternehmen in Spanien denkbar, wo offenbar die Erinnerung noch mit „heißen“ Konflikten verknüpft ist? Welche Rolle können oder sollten Historiker, die sich mit Spanien beschäftigen, einnehmen? Wie ließen sich die Gedächtnisschichten, die gewisse Ereignisse, Orte und Symbole um- und überlagern, freilegen, ohne zugleich erinnerungsstiftend zu wirken? Diese und andere grundlegende Erwägungen regten die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen politischen sowie normativen Bedingungen spanischer Erinnerungsorte an und erlaubten, solcherart gerüstet, die folgenden Vorträge kritisch zu verfolgen.

Das nachmittägliche Modul eröffnete Stefan Joost (München) mit seiner Präsentation, der das Zäsurjahr 1492 unter dem Gesichtspunkt „Ein Erinnerungsort für ganz Spanien? Konflikte um das kulturelle Gedächtnis im 19. und 20. Jahrhundert“ behandelte. Anhand von drei Jubiläumsfeiern zeigte er, dass in der spanischen Festkultur des späten 19. Jahrhunderts sowie in der Franco-Zeit sowohl die „Entdeckung“ der „Neuen Welt“ als auch die Eroberung Granadas als Teil des historischen Gedächtnisses Spaniens gepflegt wurden – im Unterschied etwa zur Ausweisung der Juden, die ebenfalls 1492 stattfand. In den 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts zeigte sich vor einem veränderten politischen Hintergrund ein Bedeutungswandel: Die Fahrt Kolumbus' wurde nunmehr für eine pluralistische hispanische Erinnerungsgemeinschaft mit dezidierter Inklusion der lateinamerikanischen Länder in Anspruch genommen.

Ob die Leyenda Negra als Erinnerungsort interpretiert werden kann, ließ KAI MÜLLER (Erfurt/Mainz) in seinem Vortrag bewusst offen. Er wies auf die erstaunliche Karriere hin, die das Konzept seit seiner ersten Formulierung Anfang des 20. Jahrhunderts durchlaufen hat. Vor allem der rechtsgerichteten Publizistik leistete es in den folgenden Jahrzehnten gute Dienste als einprägsamer Kampfbegriff. Heute taucht die leyenda negra als Topos in der spanischen Publizistik und Geschichtsschreibung immer wieder auf, zum Teil auch in Zusammenhängen, die nichts mehr mit dem ursprünglichen Kontext gemein haben – was auf eine Entschärfung ihres politischen Gehalts hindeutet. Andererseits ist im Gedächtnis weiter Kreise die Vorstellung einer über Jahrhunderte persistenten anti-spanischen Einstellung von äußeren und inneren Feinden weiterhin lebendig. Dies mag auch daran liegen, so Müller, dass sich die Geschichtswissenschaft bislang meist darauf beschränkte, spanienfeindliche Stereotype in ihren historischen Manifestationen zu untersuchen, ohne die nachmalige Instrumentalisierung der Vorstellung von einer „Schwarzen Legende“ als solche in den Blick zu nehmen.

ANTONIO SÁEZ-ARANCE (Köln) nahm „Die 200 Jahrfeiern der Verfassung von Cádiz 1812 -2012“ in transnationaler Perspektive in den Blick und kam zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass der Verabschiedung der liberalen Verfassung von Cádiz im Jahr 1812 in den lateinamerikanischen Ländern häufig intensiver gedacht wurde als in Spanien selbst. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert werde in Spanien die Verfassung von Cádiz zunehmend im Kontext neo-konservativer populärwissenschaftlicher Diskurse verhandelt, was eine Umdeutung der ursprünglichen Symbolik dieses Ereignisses darstellt. Einblicke in die aktuelle Politik von Jubiläums- und Gedenkfeierlichkeiten, welche häufig von privatwirtschaftlichen Unternehmen konzipiert und organisiert werden, führten in der Diskussion zu weiteren Überlegungen über populäre Geschichtsvermarktung und -politik.

Die Reihe von Vorträgen zum „Ort“ des spanischen Bürgerkriegs im kollektiven Gedächtnis Spaniens begann SÖREN BRINKMANN (Erlangen-Nürnberg) mit der Frage nach dem Gedenken an die Opfer des Bürgerkrieges in der Franco-Zeit sowie während der postfranquistischen Ära. Wenn „Bürgerkrieg als Erinnerungsort – Erinnerungsorte des Bürgerkriegs“ betrachtet werden, zeigt sich, dass unter Franco die öffentliche Erinnerung an die Toten der republikanischen Seite bis auf wenige Ausnahmen tabuisiert war. In und nach der Transición entstanden neue Opferdiskurse, die bis in die Gegenwart politisch instrumentalisiert und polemisch aufgeladen geführt werden; auf absehbare Zeit dürfte daher kein nationaler Konsens über die rechte Form des Gedenkens an die Toten des Krieges zustande kommen.

Beispielhaft dafür kann der Umgang mit dem franquistischen Nationaldenkmals „Valle de los Caídos“ angesehen werden. FRAUKE KERSTEN-SCHMUNK (Oldenburg/Mainz) analysierte dessen Relevanz als negativer und gespaltener Erinnerungsort anhand der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Felsenbasilika und angeschlossenem Klosterkomplex. Gerade der weitere Umgang mit diesem Monument franquistischer Machtfülle könnte zu einem versöhnenden Symbol für die Aufarbeitung von Bürgerkrieg und Diktatur werden. Das Verbot von politischen Aufmärschen von Alt-Falangisten und -Franquisten und der Abkehr der Benediktiner von Gedenkmessen für Franco und José Antonio Primo de Rivera seien erste Schritte dorthin. Durch ein Dokumentationszentrum über den Bürgerkrieg und die Diktatur sowie eine kritische Darstellung der Entstehung dieses Denkmals würde das Tal der Gefallen doch noch die Chance bekommen, zu einem Erinnerungsort für die gesamte spanische Gesellschaft zu werden; solches scheint aber aufgrund der politischen Debatten und dem Hausrecht der Benediktiner bisher nicht möglich.

NINA ELSEMANN (Berlin) thematisierte Die „desaparecidos“ des Spanischen Bürgerkrieges und zeigte, dass das Gedenken an die „Verschwundenen“ und das Bestreben nach Aufklärung in Spanien wesentlich durch die Aufarbeitung der lateinamerikanischen Diktaturen angeregt wurde. Es sei notwendig, transnationale Verknüpfungen zwischen lokalen Erinnerungsorten und globalen Diskursen zu betrachten, um die Dynamiken der Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika und Spanien zu verstehen. Als Beispiele nannte Nina Elsemann die Anklageerhebung gegen Pinochet in Spanien oder die Rolle der argentinischen Madres de la Plaza de Mayo für den spanischen Erinnerungsdiskurs. Erst durch die diskursive Adaption des argentinischen Begriffs der „desaparecidos“ konnten in Spanien zivilgesellschaftliche Vereinigungen Forderungen nach der Aufklärung der Verbrechen und der Freilegung von Massengräbern durchsetzen.

Die Vorträge und Diskussionen bestätigten, dass ein Bedarf besteht, sowohl über spanische Erinnerungsorte an sich nachzudenken als auch über mögliche Gründe, weshalb solche Projekte bislang nicht in Angriff genommen wurden – und wohl auf absehbare Zeit auch nicht angegangen werden. Die umkämpfte Erinnerung an den spanischen Bürgerkrieg entpuppte sich als einer der wesentlichen Hinderungsgründe, woraus sich verschiedene Konsequenzen für eine Weiterverfolgung des Themas im spanischen Kontext ergeben: Es wäre beispielsweise möglich, sich zuerst auf „kältere“ Erinnerungsorte der Vormoderne zu konzentrieren. Zahlreiche historische Gedenkfeiern der letzten Dekade und die große Popularität bei in- und ausländischen Besuchern, die jene „Orte“ genießen, die als Markzeichen iberischer Geschichte gelten (wie z. B. die Alhambra), zeigen, dass über gewisse Kristallisationspunkte des historischen Gedächtnisses durchaus Konsens besteht. Andererseits wäre auch denkbar, sich ausschließlich auf eng umgrenzte, lokale Erinnerungsorte zu verlegen, so dass eine Auswahl bewusst unkanonisch bliebe. Schließlich stellten einige Teilnehmer der Debatte das Konzept und die Rolle der beteiligten Historiker an sich in Frage und sahen die Aufgabe der Geschichtswissenschaft eher darin, die Erinnerungsschichten im Kontext gewisser „Orte“ freizulegen, anstatt an einer immer fragwürdigen „invention of tradition“ mitzuwirken.

Konferenzübersicht:

Heinz Duchhardt (IEG Mainz): Begrüßung und Vorstellung des Projekts "Europäische Erinnerungsorte"

Thomas Weller (Mainz): Einführung in das Thema des Workshops

Lektüre und Diskussion einschlägiger Theorietexte (P. Nora, E. François, A. Assmann)

Steffen Jost (München): 1492 - Ein Erinnerungsort für ganz Spanien? Konflikte um das kulturelle Gedächtnis im 19. und 20. Jahrhundert

Kai Müller (Erfurt): Die Leyenda Negra

Antonio Sáez-Arance (Köln): Die 200 Jahrfeiern der Verfassung von Cádiz 1812 -2012

Sören Brinkmann (Erlangen-Nürnberg): Bürgerkrieg als Erinnerungsort – Erinnerungsorte des Bürgerkriegs

Frauke Kersten-Schmunk (Oldenburg): Das Valle de los Caídos

Nina Elsemann (Berlin): Die desaparecidos des Spanischen Bürgerkriegs: Zwischen lokalen Erinnerungsorten und globalen Diskursen

Schlussdiskussion


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